Immer wieder kündigte Kanye West sein zehntes Album an, aber nichts geschah. Nun ist »Donda« plötzlich doch da. Hat sich das Warten gelohnt?
Die Sprinterin Sha’Carri Richardson macht sich bereit zum Start. Aus dem Off dieses Werbespots´singt Kanye West. Es ist der einminütige Ausschnitt eines Songs, der das lang erwartete, zehnte Studioalbum Album des Musikers schon vor über einem Monat ankündigte: »Donda«.
Eine der schnellsten Frauen der Welt läuft zur Musik eines der größten Albumveröffentlichungsverzögerer der Welt los. Starten zu etwas, dessen Start mehrfach verschoben wurde. Das fügte sich irgendwie recht poetisch zusammen. In einer die gefühlten Gegensätze – das Vertrackte in den Tracks und im Leben – in sich tragenden Kanye-West-Logik; sagte West, der vor einigen Jahren öffentlich machte, an einer bipolaren Störung zu leiden, auf seinem 2018er Album »Ye« schon: »That’s my bipolar shit.« Und dann: »That’s my superpower.« Es passt auch zu West, dass »Donda«, der Ankündigung mit dem Werbespot zum Trotz, weiter auf sich warten ließ.
Kanye West, 44, ist nicht nur einer der größten Albumveröffentlichungsverzögerer, er ist einer der prominentesten Rapper, Sänger, Produzenten, Designer, Künstler der Welt. Und einer der
verquersten. Einer, bei dem es sich lohnen kann zu warten. Aber auch nicht muss. Sein Album »My Beautiful Dark Twisted Fantasy« aus dem Jahr 2010 war ein Meisterwerk des Pop. Doch drumherum konnte West auch den Anschein erwecken, er wolle der leeren Floskel »Genie und Wahnsinn« neues, weirdes Leben einhauchen: Die Kontroverse mit Taylor Swift, die in der Zeile »I made that bitch famous« von seinem Album »The Life of Pablo« einen Höhe- oder eher Tiefpunkt erreichte. Der Support für Donald Trump. Wests Tweet, in dem er sich von Politik distanzierte. Seine Ankündigung, selbst als Präsidentschaftskandidat anzutreten. Die Aufs und Abs und das Ende von »Kimye«. Sein Wunsch, nur noch »Ye« zu sein.
Auf den Spot mit der Sprinterin folgten weitere Ankündigungen und Unklarheiten: Events, bei denen Kanye West im ausverkauften Stadion auftrat, ohne zu singen oder sein Gesicht zu zeigen. Events, bei denen er Marilyn Manson auftreten ließ, dem mehrere Frauen Missbrauch vorgeworfen hatten. West ließ sich beim Schlafen streamen, und irgendwann zeigte sich »Donda« bei Apple Music, allerdings nur als Simulation. Als Liste von mehr als 20 Tracks ohne Namen. Viele Hüllen, wenig Inhalt. Unterm Strich konnte man das lesen wie eine große Geste der Verweigerung gegenüber Mechanismen, denen sich Popstars derzeit häufig fügen müssen: Gesicht zeigen, Highlights streamen, Content in leicht verdaulichen Häppchen liefern. Nicht mit West. Jetzt hat er jedenfalls geliefert, »Donda« ist da. Hat sich das Warten, das Kanye-beim-Verweigern-Zuschauen, gelohnt?
»Donda« knüpft dort an, wo West mit seinen Veröffentlichungen, namentlich seinem neunten Studioalbum »Jesus Is King«, zuletzt stand: an Gottes Seite. Himmel versus Hölle, Gott gegen Teufel, und für West ist klar, wer siegt. Da ist aber nicht nur Gott. West scheint auf dem Album, das teils zur Zeit seiner Scheidung von Kim Kardashian entstanden ist, auch Halt in alten Bindungen zu suchen: Zum einen ist seine 2007 verstorbene Mutter, nach der »Donda« benannt ist, zentral für das Album. Gleich im Opener fällt ihr Name 60-mal. Zum anderen sind frühere Wegbegleiter wie Jay-Z wieder da, und das gleich mit schön größenwahnsinnig anmutenden Zeilen wie »Made in the image of god, that’s a selfie«. Zusammengehalten werden die 27 Tracks (eine Stunde und 48 Minuten Musik) von Wests Zerrissenheit, naturgemäß. Zur Verweigerungshaltung der Promophase des Albums passt es zwar, wenn er an einer Stelle rappt, dass er ohne Netz sei, keine Interviews gebe und eine Maske aufsetze, damit niemand wisse, was er vorhat. An anderer Stelle setzt er diesem Kulturpessimismus jedoch seine Technikfixierung entgegen.
Die Zerrissenheit zeigt sich insbesondere am »celebrity drama«, wie West in »Believe What I Say« rappt, was sich als Ende der Ehe mit Kim Kardashian deuten lässt: Mal scheint er sich in
Selbstkritik zu üben, wenn er von sich selbst als demjenigen »with a new chick« spricht. Mal in Selbstbehauptung, wenn er rappt, er habe nun »no more problems«. »Take everything«, heißt es in »Jail«, und das hat fast etwas von Selbstaufgabe, wohingegen er einige Tracks später betont, dass sie immer seine »favorite prom queen« bleibe. Kompliziert, komplex und konfus. Es ist nicht nur kompliziert. Es ist komplex und konfus. Kanye West eben. Er schafft es, in ein und demselben Track die Zeile »Man, I don’t know what I would do without me« mit der Erkenntnis »I give up on doin’ things my way« zu kombinieren. »Okay, okay«, heißt es woanders, »I’m not okay«.
Ein Schluss, den West aus seiner Zerrissenheit zu ziehen scheint, ist der, sich Gott komplett anzuvertrauen. »I don’t care ’bout the lawyer fees«, rappt er. »God will solve it all for me.« Das wirkt stellenweise wie ein verzweifelter Versuch, sich selbst zu vergewissern, dass alles gut wird –
solange Gott hilft: »Dear god, make it alright, only you can make it alright.« West und sein Chor wiederholen »We gonna be okay« oder »Make me new again« wie ein Mantra. Über einer Musik, die das Gebethafte durch häufige Wiederholungen verstärkt. Zwar kommen auch hier die Orgeln und die Chöre von »Jesus Is King« vor, doch in seiner Verzerrung und Vertracktheit erinnert »Donda« mal mehr an Wests schön kaputtes Album »Yeezus«, mal sogar ans Meisterwerk »My Beautiful Dark Twisted Fantasy«: Das Wabern und das Heulen übersteuerter Gitarren – oder sind das zerstörte Synthesizer, durch den Wolf gedrehte Auto-Tune-Gesänge? Dazu die wie Fehlermeldungen aufploppenden Klänge, die auf einmal abbrechenden Samples, die abgehackten Sounds, wie im von The Weeknd versü.ten »Hurricane«, einem der wenigen wirklichen Popsongs auf dem Album. Nur will »Donda«, anderes als »My Beautiful Dark Twisted Fantasy«, mit seinen ausgesparten Beats und kurz angebundenen Bassläufen eher an den Rand des Klubs als auf die Tanzfläche, es weist kaum Hits auf. Zudem ist das Album nicht so radikal wie »Yeezus« mit seinen brutalen Brüchen. »Donda« wirkt oft, als wäre es irgendwie noch nicht ganz fertig. Als ließe es bewusst Spielraum. Das schließt sich gut an die von Unklarheit und Verweigerung bestimmte Promophase des Albums an, fügt sich fast zu einer Art Gesamtkunstwerk zusammen, das nicht das fertige Produkt, sondern den Weg seiner Entstehung in den Mittelpunkt stellt: In der Promophase testete West die noch unveröffentlichten Songs vor der Weltöffentlichkeit, er schien bis zur letzten Minute an den »Donda«-Aufnahmen zu arbeiten, so, als müsste Kunst heutzutage als holpriger Prozess sichtbar sein, um interessant zu bleiben. Mit »Donda« zeigt sich, dass für West nicht nur Jesus King ist, sondern – in einer Zeit, in der sich jede und jeder auf Instagram perfekt in Szene setzen kann – gerade das Unperfekte.
Was außerdem klar wird – Kanye West operiert mit Donda oft zwischen den Genres und bricht bewusst mit Maßstäben, die für gewöhnlich für die Bewertung von Rapalben herangezogen werden. Eine Einkategorisierung erscheint ohne Vergleichsgröße kaum möglich. Die Bewertung von Donda
durch Fans und Peers fällt daher in den ersten Stunden nach Release sehr durchwachsen aus. Während viele in Donda ein Kunstwerk erkennen, sehen andere darin ein bestenfalls mittelmäßiges Rapalbum. Das Meinungsbild spiegelt wieder, dass der Hype und ettliche verschobene
Releasetermine die Erwartungshaltung offenbar auf ein Level gehoben haben, das selbst der selbsterklärte „Gottkönig“ nicht mehr erfüllen kann. Die Kontroverse, die Ye´s Markenkern bildet, setzt sich nun in den Commentsektionen etlicher Reaktionvideos und -artikel fort. Wie sie sich
entwickelt, ist kaum vorherzusagen. Befeuert wurde sie jedenfalls schon kurz nach Release in einem Post von Ye selbst, in welchem er Universal vorwirft, Donda ohne sein Einverständnis veröffentlicht zu haben und einige Tracks zurückzuhalten. Eine Situation, die schwer mit seinem Ego und Selbstbild des über alle Regeln erhabenen, besten Künstlers aller Zeiten und Alleinentscheiders zusammenzubringen sein dürfte. Dem Majorlabel ging es dabei vermutlich mehr um den Schutz seiner Investitionen, als um eine Machtdemonstration. Immerhin erhält dieses rund 70 Prozent der mit Donda erzielten Umsätze durch Verkäufe und Streamingdienste. Davon ausgenommen waren die mittlerweile drei Listening-Events, mit denen Kanye laut Insidern ebenfalls einige Millionen verdient habe. Die Entscheidung Universals erscheint vor diesem Hintergrund und des näher rückenden Releasetermins von Konkurrent Drake am 3. September nachvollziebar.